ZDF | 30 min, 1997
Dort war er der „Scheiß-Nazi“, und hier ist er der „Scheiß-Russe“. Jury war zehn, als seine Eltern ihren Hof in dem kleinen kasachischen Dorf verkauften und nach Berlin Lichtenberg zogen. Mittlerweile ist er fünfzehn und lebt noch immer zwischen den Welten. Er spricht weder russisch noch akzentfrei deutsch. Bevor er nach Deutschland kam, dachte Jury, er sei Deutscher. Nach fünf Jahren in Berlin fühlt er sich als das, was er für alle anderen hier ist: als Russe. Seine Kumpels, das sind Peter, Sergej, Tanja und Eduard, das ist die Clique russischer Jugendlicher aus seinem Neubaugebiet. In den Ferien fahren wir mit Jury und seiner Mutter zurück nach Kasachstan. Das erste Mal nach fünf Jahren besucht Jury seine Freunde, denen es inzwischen noch schlechter geht. Wir begleiten ihn auf der Suche nach einer Identität, die er weder hier noch dort findet.
Festivals
Deutscher Sozialpreis
Stab
Buch und Regie: Jana Matthes & Andrea Schramm
Kamera: Tobias Albrecht
Schnitt: Christine Boock
Produktion: timecode Berlin
Rezensionen
Bremer Nachrichten
Berliner Zeitung
Süddeutsche Zeitung
„Weiche Bilder“
„Plattenbauten, dazwischen ein sandiger Spielplatz mit ein paar Büschen drumherum. Der Weg mittendurch ist die unsichtbare Grenze. Hier treffen sich die deutschen Jugendlichen, dort „die Russen“. Sie sehen alle gleich aus, sehr kurze Haare, mißtrauischer Blick. ,,Warum sind die hier?“, fragen die Deutschen, ,,die sollen dahin zurückgehen, woher sie kommen.“ Würden sie ja auch gern, „die Russen“, die eigentlich Deusche sind, irgendwie, aber Deutsch mit Akzent sprechen oder gar nur geradebrechen. Aber die Eltern haben Kasachstan verlassen, damit es ihre Kinder einmmal besser haben.
Und nun sind sie hier, in jener Fremde, die mit dem erträumten Märchenland nichts gemein hat.
Jana Matthes und Andrea Schramms kleiner, leiser Dokumentarfilm kreist um den 15jährigen Juri, einen freundlichen, stillen, ernsthaften Jungen, Sohn von deutschen Eltern, der nur Russisch sprach, als er vor fünf Jahren aus Kasachstan kam, wo er als „Faschist“ beschimpft wurde. Hier heißt er „der Russe“.
Wer ist er wirklich, wo ist er zuhause? Wie kann er zu sich finden zwischen Heimweh, Berliner Osten, der Clique seiner Freunde, den Deutschen drüben jenseits des Weges?
Behutsam und voller Zuneigung beobachten die beiden Filmemacherinnen den jungen Mann, zitieren aus seinen Briefen an den Freund in der alten Heimat, lassen ihn seine kurzen, prägnanten Beobachtungen über die Menschen in Berlin formulieren: „Sie gehen auf die Straße und sprechen mit ihrem Hund.“ Schließlich begleiten sie ihn und seine Mutter bei einem Urlaub im alten, 6.000 Kilometer entfernten Zuhause. Endlose Straßen, flache Landschaft bis zum Horizont, bittere Armut und Tränen der Freude. Dieser Ausflug erzählt mehr als viele Worte: die andere Kultur, die andere Art, wie die Menschen miteinander leben, die Unwichtigkeit von Geld und Luxus. Und Juri singt zur Gitarre seine herzzerreißenden Lieder, die suggestivsten Botschafter seiner Heimat. Der Film wechselt ruhig und geschickt die Perspektive, mal schaut er mit den Augen der Fremden auf die Deutschen, mal umgekehrt. und wenn am Schluss die deutschen Jugendlichen sagen, sie hätten die Nase voll von der verordneten deutsch-sowjetischen Freundschaft, einer dann doch ein paar Sätze Schul-Russisch auspackt und eine Russin ins Deutsche übersetzt, zeigt sich ein Stück Hoffnung.
Vielleicht lernen sie doch noch, miteinander zu reden, zu leben, ihre Vorurteile abzubauen. Der Film mit seinen weichen, unaggressiven Bildern tut das Seine dazu.“
Mechthild Zschau | Süddeutsche Zeitung vom 18.9.97
„Hervorragend“
„Sie waren Wolgadeutsche, sind nun nur Deutsche und bleiben doch Russen. Wie lange eigentlich noch? Um die Antwort möchte man sich am liebsten drücken, weil ausgerechnet der Hoffnungsträger der Zukunft, die Jugend, offenbar auch nichts anderes im Sinn hat als alte Vorurteile und Klischees zu konservieren.
Das soll keine Verallgemeinerung sein, was mit Sicherheit auch nicht die Absicht von Jana Matthes und Andrea Schramm (Buch und Regie) mit ihrem Filmporträt „Russenkinder“ in der Reihe „37 Grad“ war. Einmal mehr ein hervorragender Beitrag, weil nicht moralisierend, sondern eher eine sachlich-unterkühlte Momentaufnahme deutscher „Normalität“, die betroffen macht oder es zumindest machen sollte. …“
Frank Heinig | Bremer Nachrichten vom 18.9.97